Ausflug nach Finistera und Muxia vom 15. bis 23. Mai
copyright Klaus Goerschel
Schon am nächsten Tag meiner Ankunft in Santiago brach ich wieder auf, um einem alten Pilgerbrauch folgend das "Ende der Welt" aufzusuchen, das Felsenkap Finisterra am Atlantik. Mein kleiner Reiseführer vermutet, dass dieses Kap "höchstwahrscheinlich" schon vor der Entdeckung des Jakobusgrabes ein Pilgerziel gewesen sei. Also empfiehlt er dem Pilger den Weg zum Kap, da dieser dort die Einsamkeit finden könne, "die man auf dem Weg selbst oft vermisst haben mag". Na, ich war gespannt, ob dieser zu erwartenden Einsamkeit, denn in Santiago bin ich vielen Pilgern begegnet, die auch zum Kap Finisterra wollte.
Nach der 12 Uhr-Messe trank ich noch mit Adelheid, die ich wieder einmal zufällig getroffen hatte, an der Plaza de la Quintana einen spanischen Aperitiv und machte mich dann auf den Weg nach Negreira. Das Wetter war überwiegend freundlich, nur der Wind blies scharf und kalt durch die Gassen. Da es bis Negreira nur ein "Katzensprung" war, ca. 22 km, war ich in meiner Freude, die Pilgerschaft auf dem Jakobusweg zu einem glücklichen Ende gebracht zu haben, nur sommerlich leicht bekleidet. Auf der großen Ausfallstraße Richtung Negreira verpasste ich irgendwann die entscheidende Abfahrt und musste schließlich einen weiten Umweg über die Berge von Urdilde in Kauf nehmen. Der Wind stürmte eiskalt über die Höhen. Als ich endlich die Pilgerherberge erreichte, war ich unterkühlt und von den lächerlichen 40 Kilometern geschafft.
Am nächsten Morgen war es kalt und bewölkt, als könne es jeden Augenblick regnen. Ich fuhr, wenn es eben ging auf dem Pilgerweg oder auf kleinen Landstraßen Richtung Olveira. Vor A Pena schenkt mir eine fahrende Bäckersfrau ein halbes Brot, 4 Youghurt und ein Kuchenteilchen. Ich wusste nicht wie ich dazu kam, setzte aber ungeheuer motiviert meine Fahrt fort. Auch das Wetter besserte sich, die Bewölkung riß auf und als ich Olveira erreichte, schien die Sonne. An der Albergo freudiges Wiedersehen mit Kurt und Ingo. Begrüßungsformel: "Da denkt man nichts Böses und wen trifft man?" Im Laufe des Nachmittags treffen immer mehr Pilger in diesem kleinen unscheinbaren Bauerndörfchen ein. Fahrradfahrer müssen bis 18 Uhr warten, so die kategorische Auskunft der spanischen Wirtin. Alle Radpilger fuhren umgehend nach Cee weiter, nur ich blieb. Na, ich hatte Glück. Weil eine ältere Französin sich mit aufgeblasenen Backen über eine Entscheidung der Spanierin mokierte, durfte ich mich in ein herrliches Zweibettzimmer mit WC und Waschgelegenheit einquartieren. Als mein Bettnachbar mich husten hörte, schenkte er mir ein Halstuch und einen Beutel Ricolah Bonbons. Und tatsächlich, sie halfen.
Als ich in der Frühe aufbrach lag über Galicien dichter Nebel. Heute noch wollte ich den Atlantik erreichen. Das hatte irgend etwas Unwirkliches an sich, nachdem ich wochenlang über Land geradelt war und schon Schwierigkeiten hatte, mir vorzustellen, jemals in Santiago ankommen zu können, geschweige denn den Atlantik zu erreichen. Doch 1 Uhr Mittags radelte ich in das Touristenörtchen Finisterra ein. Vor der kleinen Herberge skeptische Gesichter, die im Grunde nicht glaubten hier für die Nacht ein Lager zu finden. Süffisanterweise wurde sie erst 18 Uhr geöffnet. Ich zögerte nicht und suchte mir eine private Unterkunft. Nicht lange und ich wurde fündig: In einem hohen Haus im 4. Stock mit absolut freier Sicht über die ganze Meeresbucht. Gerhard, der auch ein Zimmer suchte, zog gleich mit ein.
Am Abend machte sich fast ganz Finisterra auf den Weg zum Kap. Sie wollten dort den Sonnenuntergang erleben. Der Himmel war klar und es wehte ein schwacher Wind. Mucksmäuschen still waren sie alle, die da an dem steilen Küstenhang im Gras saßen und auf das Schauspiel der im Meer versinkenden Sonne warteten. Und tatsächlich um 22.30 Uhr versank der glühende Sonnenball bilderbuchmäßig im Meer. Das konnten die Kelten vor 2500 Jahren nicht anders erlebt haben. Als die letzte Sonnensichel am Horizont verlosch und nur noch der blasse Abendhimmel über dem Ozean lag, wurde die Stimmung ausgelassen. Man jubelte, sang und soweit es ging, verbrannten Pilger ihre Schuhe oder Kleidungsstücke, um ihre Pilgerschaft endgültig zu beenden. Im Dorf wurde dann bei Wein und Bier weiter gefeiert.
Am Freitag, den 18. Mai packte ich meine sieben Sachen und machte mich auf den Weg nach Muxia. Nach dem Rummel in Finisterra freute ich mich unbändig auf eine Wanderung durch die wilden Berge am Rande des Atlantik, aber auch auf Ruhe und Einsamkeit. Man nennt den Weg hier Xacobea. Ich bemühte mich, auf dieser Route nach Muxia zu gelangen. Allerdings konnte ich nur selten radeln und musste mein Rad größtenteils schieben. Das Wetter war anfangs stark bedeckt, diesig und windig. An der Felsküste des Meeres brandeten hohe Wellen. Stundenlang schob ich mein Fahrrad bergauf, bergab über schotterige Hohlwege durch Wald und Feld. Ich wähnte mich von aller Zivilisation vollkommen entfernt, als plötzlich während einer meiner seltenen kleinen Trink- und Esspausen eine Herde Kühe durch den engen Weg an mir vorbei drängte. Das Ganze kam so überraschend, dass ich froh sein musste, das mir eine Kuh nicht in die Rippen getreten hatte. Von der ausgelaufenen Wasserflasche und dem zertretenen Brot wollen wir gar nicht reden. Es wurde dann noch einmal kritisch, als ich vor dem Rio Castro stand und langsam zu der Einsicht kam, dass mir wohl nichts anderes übrig bliebe, als durch diesen Fluss zu waten. Ich hätte sonst einen Umweg von 15 km in Kauf nehmen müssen. Ich hängte die Radtaschen aus und lief mit dem Fahrrad auf dem Rücken und bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehend, über unsicheren Treibsand auf das andere Ufer zu. Irgendwann hatte ich das Abenteuer ohne bis zum Bauch einzusinken hinter mir und radelte am späten Nachmittag bei Sonnenschein und stürmischem Wind in Muchia ein.
Ich blieb noch einige Tage in Muxia, weil ich ständig hoffte, ich könnte hier noch einen schönen Badeurlaub verleben mit Sonnenschein und warmem Wind. Stattdessen blies es fast mit stürmischer Gewalt. In Muxia selbst, einer kleinen Stadt, die stark an Husum erinnert, grau, nebelig und einem Ozean, den man in der Stille brausen hoert, war nicht viel los. Meistenteils saß ich in meinem Zimmer und las, spazierte im Supermarkt herum oder ging in die "Sirena" zum Essen.
Das Einzige, was mich wirklich interessierte, war die berühmte Kirche "Sanctuarium de Barca". Sie ist den Seefahreren gewidmet. Ich besuchte einen Gottesdienst und hielt mich in der Nähe der Tür auf. Sie hat eine Öffnung ins Freie mit Blick auf den Ozean. Als der Pfarrer die Messe las, hört ich von hinten die Brandung gegen die Felsen donnern. Nun entdeckte ich, dass im ganzen Kirchenschiff überall kleine Schiffsmodelle von der Decke herunter hingen, zum Teil gehalten von Engeln. Ich schaute zurück durch die vergitterte Oeffnung und sah wie der Ozean tobte. Da lief mir doch ein Schauer den Rücken hinunter, denn niemals vorher war mir so bewusst geworden, dass bestimmt viele Fischer und Seeleute nicht wieder zurückkehrten und die Menschen hier mit dieser Gewalt des Meeres leben mussten. Wohl mit gutem Grund wurde die Küste deshalb "Küste der Toten" genannt.
Als sich der Wind, der schon seit zwei Tagen sturmartig blies, nicht legte und ich mich vor Kälte ohne Handschuhe und Mütze gar nicht bewegen konnte, wo ich doch campieren und mich sonnen wollte, entschied ich, eine Woche früher als geplant nach Hause zu fliegen. Am 23. Mai nahm ich den Bus nach Santiago und flog am Sonnabend, den 26. zurück in die Heimat.
Nach ca. 2700 Kilometern Pilgerreise durch die Schweiz, Frankreich und Spanien landete ich um Mitternacht glücklich und zufrieden in Stuttgart. Meine Reise mit dem Fahrrad nach Santiago war eine wunderbare Erfahrung. Ob es nun der lange Weg nach Santiago war, der erst einmal bewältigt werden musste oder das Erleben der Gemeinschaft der Gläubigen oder die so lebendigen menschlichen Begegnungen, letztlich trug alles zum Reichtum der Seele bei. Die Reise wird deshalb "nachwirken" und lange in mir weiter leben.